Rede bei der IgR Kundgebung am 14.11.2020

Leider müssen wir heute wieder auf die Straße, um gegen Verschwörungsmythen, Nationalismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus zu protestieren. Die Verquerdenkenden zeigen erneut, dass sie die Pandemie nicht ernst nehmen und ihnen andere Menschen völlig egal sind. Auch Neonazis finden sich unter diesem Label ein und marschieren gemeinsam mit den angeblich friedlichen Leuten für die angebliche Freiheit. Eine bunte Mischung aus Unsinnigkeiten und brandgefährlichen Worten und Taten, wie man in Leipzig am letzten Wochenende gesehen hat, findet sich heute auch in Regensburg zusammen.
Und immer noch werden diese Querdenker als kritische Stimmen gesehen, die halt mit manchen Maßnahmen unzufrieden sind.
Wir nehmen ihnen das nicht ab, wir sind sicher: Das ist als Kritik getarnter Egoismus. Wer denkt, Freiheit zu verlieren, wenn er*sie einen Mundnasenschutz tragen muss, um andere vor Ansteckung zu schützen, wer das fröhliche Verbreiten von Viren als Akt der Selbstbestimmung sieht, hat Freiheit nicht verstanden. Und wer dann auch noch mit Faschist*innen für den Frieden marschiert, hat wirklich gar nichts kapiert.

Als Anarchist*innen sind Freiheit und Selbstbestimmung unsere wichtigsren Themen. Doch haben wir ein völlig anderes Verständnis davon als die Querdenker*innen. Für uns gehört zu Freiheit auch immer Solidarität und zu Selbstbestimmung gehört Rücksichtnahme.
Tatsächlich stehen einige Maßnahmen und Bekämpfungsstrategien gegen Corona im Widerspruch zu unserem Verständnis einer freien Gesellschaft. Doch aus anderen Gründen. Wir stehen grundlegend im Widerspruch zu den kapitalistischen Verhältnissen und dem Staat. Wie von staatlicher und wirtschaftlicher Seite mit dem Virus umgegangen wird, zeigt uns deshalb nur erneut auf, was Priorität hat: Wachstum, Kapitalakkumulation, Kontrolle. Dafür müssen wir uns dann privat zurückhalten, damit wir gesund bleiben und zur Arbeit gehen können. Großraumbüros, Kindergärten und Schulen, Fleischfabriken – dort läuft alles weiter trotz Ansteckungsrisiko, damit die Wirtschaft nicht stockt.
Wir sagen nicht, dass persönlichen Einschränkungen komplett falsch sind. Aber wir sagen, die Prioritätensetzung ist menschenunwürdig: Wachstum vor seelischer Gesundheit, Wertschöpfung vor Zugang zu Schutzräumen, Fabrikarbeit vor Freundschaftsbesuch – das ist falsch! Wir sind kein Humankapital für den Markt, wir sind Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, die auch in einer Krise nicht völlig zu kurz kommen dürfen. So zeigt die Coronakrise immer offenkundiger, dass das Problem Kapitalismus heißt .

Als Anarchist*innen haben wir eine Menge an dem zu kritisieren, was gerade abläuft. Dass die Bundeswehr zur Pandemie Bekämpfung eingesetzt wird, weil Personal in Gesundheitsämtern und Krankenhäusern fehlt, ist mehr als beunruhigend. Diese Entwicklung wird den reaktionären, militärfreundlichen Kräften Argumente zum weiteren Ausbau der Bundeswehr geben.
Auch hat bisher noch keine Aufwertung der Pflege stattgefunden, weder finanziell noch personell. Wie wir vermutet haben, ist es beim Klatschen vom Balkon geblieben. Wenn jetzt Angestellte für eine fairere Vergütung streiken, wird ihnen Egoismus unterstellt, denn es gibt ja gerade “nix zu verteilen”. Um Ausreden waren die Arbeitgeber*innen, sowohl die staatlichen als auch die aus der freien Wirtschaft noch nie verlegen. Die aktuelle Situation macht’s ihnen nur umso leichter, das Verständnis der Bevölkerung für die Streikenden zu brechen.
Auch an der katastrophalen Situation der Geflüchtete in den Lagern hat sich nichts verbessert, im Gegenteil. Lager brannten oder würden geräumt, die Menschen sitzen auf der Straße und sind am stärksten durch eine Ansteckung gefährdet, da sie keinen sicheren Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Jetzt kommt der Winter und die Lage wird immer unerträglicher.
Für Obdachlose in deutschen Städten hat sich auch nichts gebessert. Auch sie sind im besonderen Ausmaß durch eine Ansteckung mit Covid gefährdet. In Berlin haben einige Obdachlose ein Haus besetzt, dass von der Polizei sofort geräumt wurde. Hygienebestimmungen, Abstandsregeln, Zurückhaltung gelten in solchen Fällen nicht. Da ist der Eigentumsschutz doch wichtiger.
Wir haben auch noch nichts gehört von einer Aufstockung von Personal, das sich um Betroffene häusliche Gewalt kümmert. Schon im Frühjahr wurde von Fachkräften darauf hingewiesen, dass die Zahlen steigen werden, wenn Menschen ihre Kontakte massiv einschränken müssen.
Und nicht zuletzt befürchten wir, dass der Zugang zu Impfstoff und Medikamenten gegen Corona so aussehen wird wie bisher auch bei allen anderen Impfstoffen und Medikamenten: Reichere und politisch stabilere Länder können sich Material sichern, die ärmsten Länder und Menschen sind als letztes an der Reihe.

Dies alles sind Dinge, die es zu kritisieren gilt. Es geht hier immer um Freiheit und Selbstbestimmung von Menschen, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben und die Freiheit von Erkrankung. Aber darüber sprechen die Querdenker*innen nicht. Weil es sie nicht betrifft und deshalb auch nicht interessiert. Weil sie sich nur für eigene Privilegien interessieren, die jetzt ausnahmsweise Mal ein bisschen eingeschränkt werden. Und weil das als Argumentation erbärmlich ist, erfinden sie so einen Quatsch wie Kinder, die an Masken sterben würden, oder relativieren auch ggf. den Holocaust, indem sie diese grauenhaften Taten mit der jetzigen Situation vergleichen.
Im Gegensatz zu diesen Leuten gehen wir als Anarchist*innen für eine freie, friedliche und gerechte Welt für ALLE auf die Straße, so wie wir auch schon vor Corona für dieses Ziel auf die Straße gegangen sind.
Die Querdenker*innen sind nicht kritisch! Ihre Freiheit ist keine!
Wer auf ihre Kundgebungen geht und mit ihnen sympatisiert, macht sich mit Faschist*innen, Rassist*innen, Antisemit*innen und anderen menschenverachtenden Ideologien gemein und ebnet den Weg für eine Gesellschaft mit noch weniger Freiheit und noch weniger Frieden.
Deshalb gilt für uns: Mitdenken statt querdenken, für eine wirklich freie und friedliche Welt!

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