Ein Beitrag aus anarchistischer Perspektive zur aktuellen Debatte rund um Corona, Staat & Kapital
Unsere Rede zur Kundgebung vom 28.01.2021
Hallo Freund:innen, Genoss:innen, Lohnarbeiter:innen und auf den Bus Wartende. Warum stehen wir hier in dieser kalten Jahreszeit, mitten im privaten Lockdown, obgleich wir uns auch auf`s gemütliche Sofa kuscheln könnten?
Die Antwort ist einfach und schwierig zugleich. Wir wollen auch inmitten dieser weltweiten Pandemie klar machen, dass Ausbeutung und Überwachung keine Pause machen. Dass diejenigen, die heute weiterhin mit dem Bus oder dem Auto zur Arbeit fahren MÜSSEN, keinen Lockdown haben, weil der Lockdown ein privater ist, der sich hauptsächlich auf unsere Freizeit bezieht. In der parlamentarischen Politik wird die Frage nach einem Lockdown für Arbeitsstätten weitestgehend umgangen. Mit einem Infektionsrisiko, das in der Zusammenkunft an der Arbeitsstätten begründet liegen könnte, will man sich offenbar nicht zu genau beschäftigen. Immerhin gibt es seit gestern die Pflicht für Arbeitgeber:innen Homeoffice anzubieten, wenn das betrieblich möglich ist. Wir werden sehen, wie wirksam das ist.
Bisher scheint im Parlament die Überzeugung zu bestehen, dass sich schon alles zum Guten wendet, wenn all unsere privaten Aktivitäten auf Null gesenkt sind, wenn wir uns nach 21.00 Uhr nicht mehr ohne Polizeikontrollen frei bewegen können und wenn Kneipen, Schwimmbäder und Bibliotheken dicht sind. Doch die Infektionszahlen sinken leider nicht stark genug, denn weder Arbeitsschutzbestimmungen noch Schutzbestimmungen auf dem Weg zur Arbeit scheinen den angeblichen Vertreter:innen des Gemeinwohls bekannt zu sein.
Doch damit nicht genug. Während im öffentlichen Gesundheitswesen und am ÖPNV fleißig gespart wird, geht “die Börsenparty weiter. Der DAX erreicht ein drittes Rekordhoch in Folge”, so der Titel des Handelsblatt Anfang Januar. Tatsächlich steigen die Aktienkurse mit jeder Verschärfung der Corona-Maßnahmen. Kein Wunder, denn die Bundes- und Landesregierungen stützen entsprechend ihrer kapitalistischen Interessen eher bedingungslos Großbetriebe anstatt öffentliche Betriebe zu fördern, die das Ansteckungsrisiko auf ein Minimum reduzieren könnten.
Weltumspannende Konzerne wie die deutsche Lufthansa, die sich durch NS-Zwangsarbeit und SS-Unterstützung einen Namen gemacht hat und die heutzutage 23.000 Abschiebeflüge jährlich durchführt, wird als privat geführtes Unternehmen mit Hilfen von 9 Milliarden € durch die BRD subventioniert. Die offizielle Antwort des Konzerns auf die staatliche Umverteilung von Steuergeldern beinhaltet den Stellenabbau von 11.000 Stellen wegen Personalüberhangs.
Auch BMW hat Subventionen für Kurzarbeit erhalten, aber 2020 1 Milliarde Euro Dividende an Großaktionäre ausgeschüttet. Und auch der Touristik-Konzern TUI, wird „gerettet“.
Wir reden heute auch von Freiheit und Gerechtigkeit. Denn Gerechtigkeit ist eine Frage von Leben oder Tod: Arbeits-, Lebens- und Wohnbedingungen entscheiden mit, wer erkrankt und wer sich gut schützen kann. Sie sind ebenso Ursachen für Vorerkrankungen. Zahlen aus Hamburg belegen, dass Covid-Patient:innen in den Krankenhäusern überdurchschnittlich oft aus armen Stadtteilen stammen. Corona wirkt wie ein Brandbeschleuniger bei der durch den Kapitalismus verursachten Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm.
In der Pandemie nahm laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung die soziale Ungleichheit zu, die Einkommensunterschiede wuchsen und trotzdem enthält keines der Corona-Hilfspakete gezielt armutspolitische Maßnahmen – wie z.B. die vom Paritätischen Wohlfahrtsverband geforderte Aufstockung von Hartz IV um 100 € während der Pandemie.
Weiterhin verlieren wir die Kontrolle über unsere Daten: Die Warn-App ist nach bisherigen Erkenntnissen keine Erleichterung für die Gesundheitsämter, unsere Daten werden aber automatisch wie bei jeder anderen App an Apple und Google übermittelt, die diese für kommerzielle Zwecke nutzen. Letztendlich schafft diese App somit eine Illusion von Kontrolle und eine Akzeptanz staatlich beworbener Technologie-Angebote mit Überwachungsgefahr.
Wir müssen davon ausgehen, das die bereits bestehende Datensammelwut des Staates – siehe PAG und Vorratsdatenspeicherung – fortgeführt wird.
Genau wie bei der Warn-App wird jetzt über die Impfung als Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe diskutiert. Es geht uns hier nicht darum, Impfgegner:innen in Schutz zu nehmen, denn Impfungen sind ein gesellschaftlicher Fortschritt und notwendig zur Eindämmung von Erkrankungen. Jedoch ist eine Ungleichbehandlung von geimpften und nichtgeimpften Personen nicht mit unserem Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit vereinbar. Schon allein deshalb nicht, weil viele Menschen trotz ihrer Bereitschaft erst in einigen Monaten geimpft werden können.
Und wusstet ihr, dass alle DNA Speichelproben von PCR-Tests auf Anordnung vom RKI aufbewahrt werden sollen? Wir müssen davon ausgehen, dass diese DNA-Proben genau wie die gesammelten Daten von Restaurant-Besuchen im Sommer 2020 von Sicherheitsbehörden illegal genutzt werden.
Und jetzt noch zum deutschen Militär, dessen Rolle während der Pandemie besonders kritisiert werden muss. Durch den „humanitären“ Einsatz soll das Image der Bundeswehr und die Akzeptanz für sogenannte Einsätze im Inneren verbessert werden. Damit entsteht eine gesellschaftliche Akzeptanz für die Erhöhung der finanziellen Ausgaben im Bereich der Aufrüstung. Diese Rechnung geht auf: Der Einsatz von Soldat:innen während der Pandemie wird durchwegs positiv wahrgenommen. Deshalb liegt es an uns umso lauter „STOP!“ zu rufen. All das, wofür die Bundeswehr eingesetzt wird, wie Verteilung von Schutzmaterial, Lagerung von Impfstoffen in Kasernen, Unterstützung in Test- und Impfzentren oder aktuell 10.000 Soldat:innen für Tests in Alten- und Pflegeheimen, ist ein großes und bewusstes Versagen der Regierung hinsichtlich des Zivilschutzes.
In Ingolstadt zum Beispiel arbeiten gerade Soldat:innen, selbstverständlich in Uniform, in einem Alten- und Pflegeheim mit. Sie sollen zwar nur für Bewohner:innen ferne Tätigkeiten eingesetzt werden. Mit angenehmer Atmosphäre am eigenen Wohnort, was das Heim nun einmal für Alte und Pflegebedürftige ist, hat das sicher nichts zu tun.
Für all diese Aufgaben muss eine zivile Struktur in Form des Technischen Hilfswerkes 1 oder von anderem Fachpersonal handlungsfähig vorbereitet sein. Lasst euch nicht vom „humanitären“ Image der Bundeswehr tauschen! Unsere Forderung heißt weiterhin: Abschaffung der Bundeswehr und Stärkung der zivilen Strukturen.
Was können wir selbst konkret tun?
Wir können uns in radikalen Gewerkschaften organisieren.
Wir können Druck aufbauen durch Streiks in Schulen gegen die Verschärfung der ungleichen Bildungschancen, durch Mietstreiks gegen steigende Mieten, durch Streiks in den Betrieben für Schutz vor Ansteckung, aber auch für eine Umverteilung des Reichtums und für die Vergesellschaftung von Infrastruktur und Produktion.
Und wir können unsere Kolleg:innen über die genannten Probleme der Lohnarbeit informieren und dadurch die Streikbereitschaft direkt am Arbeitsplatz erhöhen.
Corona ist das Virus, aber der Kapitalismus ist die Krise!
1. Wir sehen das THW (https://de.wikipedia.org/wiki/Technisches_Hilfswerk)auch kritisch. Aus unserer Sicht brauchen wir eine staatlich unabhängige solidarische Struktur für den Zivilschutz.
Aufgrund der Nachfragen stellen wir hier noch mal Quellenangaben zum Textinhalt bereit:
Rote Hilfe Zeitung 4/2020 → zum Download
DISS-Journal 40 → zum Download
Capulcu → zur Webseite