Unser Redebeitrag zur Filmkundgebung:
Ausgelöst von dem rassistischen Mord an George Floyd durch Polizisten in den USA finden weltweit Proteste gegen rassistische Polizeigewalt statt.
Durch die Proteste findet eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rolle der Polizei statt – teils wird die Definanzierung und Abschaffung der Polizei, teils ihre Umstrukturierung gefordert.
Aus anarchistischer Sicht müssen wir aber aufhören, Polizeigewalt als Fehlverhalten Einzelner zu sehen, sondern als die logische Konsequenz des Konzepts “Polizei”. Eines Konzepts, das darauf ausgelegt ist, über andere zu herrschen, Macht auszuüben und Gewalt anzuwenden. Wir müssen Polizeigewalt als das betrachten was sie ist: sie ist Gewalt, die Geflüchtete unterdrückt, die PoC unterdrückt; sie ist Gewalt, die Streiks auflöst und die Ausbeutung des Planeten sichert; sie ist Gewalt, die linke, antiautoritäre Menschen unterdrückt, die linken Protest und Versuche antikapitalistischer Praxis unterdrückt – kurzum: Gewalt, die alles unterdrückt, was nicht in die herrschaftliche Logik des kapitalistischen Systems passt. Polizeigewalt ist Staatsgewalt.
Die Polizei ist deshalb auch nicht reformierbar. Sie ist die Gewalt eines autoritären kapitalistischen Systems, welches von der patriarchalen und rassistischen Gesellschaftsstruktur profitiert. Sie ist der gepanzerte bewaffnete Arm des Verwalters dieses Systems, des Staates.
Ihre Gewalt ist komplex. Die Aura der Unantastbarkeit von Polizist*innen, die Waffe in Griffweite und den Staatsapparat im Rücken machen ihre bloße Anwesenheit gewaltvoll. Ihre Willkür, die Tatsache, dass ihr außerrechtliches Handeln rechtlich geschützt ist, macht sie selbst gewaltvoll. Die Ausdrücke ihrer Gewalt reichen von verbaler Zurechtweisung bis Erniedrigung, von tatsächlich unabhängier Personenkontrolle zu Racial Profiling, vom “Einsatz unmittelbaren Zwangs” – so der verharmlosende Terminus der Polizei – bis zu Folter und sogar Mord.
Auch der geschichtliche Hintergrund der Polizei ist wichtig zum Verständnis ihrer Rolle. Vor dem 19. Jahrhundert gab es nirgendwo auf der Welt Polizeikräfte, wie wir sie heute kennen. Die Polizei war noch mehr als nur Teil des Sicherheitsapparates, sie verwaltete die ganze gesellschaftliche Sphäre. Geschaffen um die Ordnung des Staates zu erhalten, ist die Polizei eine in sich konservative, reaktionäre Organisation, deren Aufgabe es ist, die bestehenden Zustände zu bewahren und zu sichern. Wo sie zuerst noch zuständig war, das ganze gesellschaftliche Leben zu kontrollieren und die Sittlichkeit zu erhalten, wandelte sie sich mit der Ausformung des kapitalistischen Systems zu einer Instanz zur Kontrolle von Arbeitenden, Armen und Oppositionellen – in größerem Umfang zur Sicherstellung der ungestörten Produktion. In diesem Sinne sorgte und sorgt die Polizei für Sicherheit, für Recht und Ordnung. Aber: es war immer das Recht der Besitzenden und die Ordnung der Herrschenden.
Und so wie die Bedingungen des Nationalsozialismus in der Gesellschaft fortleben, lebt dessen Propaganda bis heute in den bürgerlichen Köpfen weiter. Noch bevor es von der Demokratie selbst erfährt, weiß jedes weiße Kind vom Polizisten, dem Freund und Helfer, dem netten Beamten in blau. Diese ideelle Einbettung der Polizei ins Private, ihre Vorstellung als Vertrauensperson und Freund sorgt für die Identifikation des konformen Bürgertums mit der Polizei. Das war Goebbels geschickter Propagandatrick der dazu führte, dass sich die Gestapo angesichts der Menge an Denunziationen überfordert sah und letztlich nur einen kleinen Teil ihrer Opfer selbst heraussuchen musste. Er wirkt bis heute nach.
Mit Wegsterben auch der letzten alten Nazikader aus der sicherheitspolitischen Bürokratie, sieht sich nun das junge Fußvolk in der Verantwortung; mit Ambition die bisher keine Niederlage kennt. Fleißig sammelt man Waffen und Munition, auch Leichensäcke und Löschkalk, Namen und Adressen von politischen Feinden – und macht da weiter wo die Großväter in Pension gegangen sind: in Militär, Geheimdienst und Polizei.
Diese nazistischen Netzwerke sind nur die Spitze, der radikale Ausdruck eines Weltbilds, das in der Polizei vorherrschend ist: wer irgendwie linksverdächtig, weiblich oder womöglich (nach den Nürnberger Rassegesetzen) “nichtdeutsch” ist, gerät ins Visier der vom Staat angestellten Nazis.
Die Polizeiausbildung legt den Grundstein für die Probleme, weil sie auf Autorität und starre Hierarchien baut und deshalb Menschen mit autoritären Charakterzügen geradezu anzieht, denn sie verspricht klare Strukturen, einen sicheren Job und Ansehen – Autorität von Amts wegen. Diese Eigenschaften finden sich tendenziell eher nicht bei politisch links denkenden Personen. Das bedeutet: Polizeiarbeit wird niemals vorurteilsfrei sein, da ihr zum Beispiel eine Bewertung von politischen Einstellungen und Menschen anderer Herkunft zugrunde liegt. Der Polizeiberuf ist ein sicherer Hafen und Hort für all jene, die sich mit dieser Denkweise identifizieren – von der bürgerlichen Mitte über rechts-konservative Kreise bis hin zu Rechtsextremen. Im schlimmsten Fall werden sogar systematisch polizeiliche Befugnisse benutzt um Andersdenkende zu bedrohen, was sich aktuell z.B. am ungehemmten und wiederholten Gebrauch polizeilicher Abfragen für die mit “NSU 2.0” unterzeichneten Drohschreiben zeigt. Die lange Duldung bis in Ministeriumsebene und die Anspielung auf den Nationalsozialistischen Untergrund, der unter staatlicher Aufsicht 10 Menschen ermordete, macht deutlich, wie fest rassistische und menschenverachtende Menschenbilder in der Polizei verankert sind.
Folgerichtig müssen wir deshalb Staat und Polizei als Ganzes in Frage stellen. In einer freien und emanzipatorischen Gesellschaft ohne kapitalistisches Wirtschaftssystem brauchen wir keine Polizei wie wir sie heute kennen. Lasst uns über Alternativen nachdenken!
Denn auch wenn nach Beseitigung des Kapitalismus schon ein Hauptgrund für gesellschaftliche Ungleichheit wegfällt: bestimmt gibt es auch in einer freien Gesellschaft menschliche Verhaltensweisen, die das Zusammenleben und das Wohl einzelner oder Gruppen bedrohen, wenn auch in viel geringerem Ausmaß. Trotzdem müssen Regeln für den Umgang mit solchem Verhalten gefunden werden. Dies kann gemeinschaftlich in den Nachbarschaften und Kommunen geschehen. Wie so etwas aussehen kann, sehen wir an den Beispielen von Rojava, der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens, und den Zapatist_innen in Chiapas/Mexiko. Dort werden Sicherheitskräfte von der Bevölkerung direkt ernannt bzw. gewählt und sind ihr gegenüber rechenschafftspflichtig. Dadurch wird die Möglichkeit, Macht und Autorität zu etablieren, erheblich eingeschränkt. Das Bevölkerung schützt sich selbst. Die Sicherheitskräfte schützen diejenigen, mit denen sie in der Nachbarschaft leben und mit denen sie täglich interagieren. Diese Nähe stellt sicher, dass Verstöße nur selten vorkommen. Die Regeln für das Zusammenleben, auf deren Basis die Sicherheitskräfte handeln, sind allgemeingültig und werden von der Bevölkerung ausgehandelt. Demokratie und Gerechtigkeit stehen so in direktem Zusammenhang. In der Rechtssprechung gibt es keine klassische Strafe mehr, sondern Anhörungen, die dem Zweck der Befriedung und Schadenswiedergutmachung dienen. Nicht die Person, sondern die Tat wird verurteilt. Solche Gerechtigkeitssysteme gehen über das Modell „Transformierende Gerechtigkeit“ hinaus, da sie zum revolutionären Umbau der gesamten Gesellschaft gehören, der sich gegen alle Formen von Hierarchie wendet.
Wir glauben also nicht, dass Chaos ausbricht, wenn wir die Polizei abschaffen. Vielmehr schaffen wir damit ein sich selbst erhaltendes System von Gewalt ab, das uns bisher an echter Veränderung und Frieden hindert. Wir und alle marginalisierten Menschen könnten dann in Ruhe etwas aufbauen, ohne Angst vor Verfolgung und Gewalt zu haben. Wir wären einen wichtigen Schritt weiter zu echter Freiheit.